Essen und Trinken

Ernährung und Verdauung bei Menschen mit Querschnittlähmung

Veronika Geng, Anette v. Laffert

Es wurde eine hohe Anzahl und ein weites Spektrum an gastro-intestinalen Symptomen nach Rückenmarkverletzung beschrieben (Ng, 2005). Je nach Ausmaß der Schädigung können sich die Störungen der Darmfunktion im Verlust der willkürlichen Darmkontrolle, in Obstipation (Verstopfung), Inkontinenz (unwillkürliche Entleerungen), Diarrhöe (Durchfällen) sowie in langanhaltenden Prozeduren bei der Darmentleerung äußern. Darmfunktionsstörungen gehören zu den hauptsächlichen Folgekrankheiten nach Rückenmarkverletzung (Doughty, 2000; Glickmann, 1996 und Stone, 1990).

Aspekte der Ernährung von Menschen mit Querschnittlähmung

Die Ernährung stellt bei der Behandlung von Menschen mit einer frischen Querschnittlähmung einen wichtigen Bestandteil der therapeutischen Maßnahmen dar. Gilt es anfänglich, die Ernährung überhaupt sicherzustellen, stehen im Laufe der Rehabilitation verschiedene Aspekte im Vordergrund, um die Rehabilitationsziele zu erreichen. Die Rehabilitationsziele können je nach Lähmungshöhe variieren. An der Erreichung der Rehabilitationsziele wird in der Erstrehabilitation intensiv gearbeitet.

Rehabilitationsziele zur Ernährung eines*r frisch verletzten Tetraplegiker*in könnten sein:

Der*die Betroffene kennt:

  • seine*ihre optimale Ernährung
  • seine*ihre optimale Flüssigkeitszufuhr
  • die Einflüsse der Ernährung auf die Blasen- und Darmfunktion
  • Einflüsse und Wirkungsweise von Flüssigkeiten auf die Blasen- und Darmfunktion
  • die Einflüsse von Medikamenten auf die Blasen- und Darmfunktion
  • die Komplikationen bei fehlerhafter Ernährung/Flüssigkeitszufuhr
  • die Gefahr der Kachexie (Abmagerung)
  • die Gefahr der Adipositas (Übergewicht)
  • die Gefahr der Schluckproblematik und das Risiko des sich Verschluckens

Der*die Betroffene kann:

  • mit angepassten Hilfsmitteln oder Tipps und Tricks selbständig Essen/Trinken
  • bei Bedarf Hilfe anfordern und Drittpersonen zur Unterstützung anleiten
Energiebedarf von Menschen mit Querschnittlähmung

Während der Energiebedarf bei Menschen mit Querschnittlähmung anfänglich aufgrund der traumatischen Stresssituation sehr hoch sein kann, sinkt er später aufgrund des Verlustes an innervierter (mit Nervenreizen versorgter) Muskelmasse mehr oder weniger deutlich ab. Vor allem der Energiebedarf in völliger körperlicher Ruhe, der sogenannte Ruheumsatz ist in hohem Maße von der Muskelmasse des Körpers abhängig. Geht diese nach Eintritt der Lähmung zurück, muss diese also auch nicht mehr ›versorgt‹ werden, und der Energiebedarf in Ruhe sinkt. Der Ruheumsatz von Menschen mit Querschnittlähmung ist deshalb meist tiefer als der eines*r vergleichbaren Fußgänger*in (entspr. Größe, Alter, Gewicht, Geschlecht). Er ist bei der Querschnittlähmung aber von sehr vielen verschiedenen Einflussfaktoren abhängig. Die Lähmungshöhe allein reicht für eine Vorhersage des Energiebedarfs bei weitem nicht aus. Faktoren wie das Vorhandensein und die Nutzung eventueller Restfunktionen, Spastik, die körperliche Aktivität im Alltag, sowie sportliche Aktivität haben natürlich alle Einfluss auf die Muskelmasse. Genetische Faktoren, die Einnahme bestimmter Medikamente, Rauchen und möglicherweise auch die Ernährungsweise beeinflussen den Ruheenergiebedarf genauso wie bei Fußgängerinnen auch. Stress und Schlaflevel tragen ebenso zum Energiebedarf bei.

Beratungszentrum für Ernährung und Verdauung

Die Themen Ernährung und Verdauung beschäftigen Querschnittgelähmte ein Leben lang. Daher widmet sich die Manfred-Sauer-Stiftung mit ihrem Beratungszentrum für Ernährung und Verdauung Querschnittgelähmter mit diesem Thema. Infos gibt es dazu auf www.bz-ernaehrung.de.

Vorhersageformeln, die zur Vorausberechnung des Ruheumsatzes bei Nichtgelähmten entwickelt wurden (z. B. Harris-Benedict, 1918) sind auf Menschen mit Querschnittlähmung ebenso wenig übertragbar wie der Body Mass Index (BMI) als Maß zur Beurteilung des Ernährungszustandes. Bei der gängigen Einschätzung des BMI (der das Körpergewicht pro Körperoberfläche angibt), wird von einer ›normalen‹ Körperzusammensetzung ausgegangen, da sich diese aber bei Muskelatrophie infolge der Lähmung zugunsten eines höheren Fettanteils verschiebt, unterschätzt der BMI Übergewicht bei Querschnittlähmung tendenziell (Weaver et al. 2007). Ein sehr niedriger BMI unter 18,5 kommt bei Querschnittlähmung eher durch den Rückgang der Muskelmasse und nicht der Fettmasse bei zwar geringerem Gewicht, aber gleichbleibender Körpergröße zustande. Bei Nichtgelähmten würde man dagegen zunächst von Untergewicht aufgrund einer stark verminderten Fettmasse ausgehen. Entsprechend umgekehrt verhält es sich bei einem hohen BMI. Eine individuelle Ernährungsberatung durch Ernährungsfachpersonen bei Menschen mit Querschnittlähmung ist deshalb häufig zu empfehlen, insbesondere wenn der oder die Betroffene Schwierigkeiten hat, sich auf den veränderten Bedarf einzustellen, und keinerlei Informationen darüber in der Klinik oder in Rehabilitationseinrichtungen erhalten hat. Vor allem das Wissen über die Bedeutung körperlicher Aktivität und Ernährung sind hier essentiell. Eine Messung des Körperfettanteils bei Menschen mit Querschnittlähmung mit der Bio-Elektrischen Impedanzanalyse (BIA), die unterschiedliche elektrische Widerstände in verschiedenen Körpergeweben erfasst, ist wiederum für diesen Personenkreis ungeeignet, da die den Formeln zugrundeliegenden Parameter nicht auf die grundsätzlich andere Körperzusammensetzung von Menschen mit Querschnittlähmung übertragen werden können. Die Körperzusammensetzung kann deshalb hier nur mit aufwendigeren Verfahren wie z. B. der Bod Pod-Methode oder dem DXA-Verfahren, das mit Röntgenstrahlen arbeitet, erfasst werden (Bosy-Westphal, 2009).

Nach aktuellen Studien kann grob ausgesagt werden, dass der Energiebedarf ca. 10 bis 25 Prozent unter dem Energiebedarf eines Fußgängers liegt (Americain Diet Assoc. 2009; Buchholz et al. 2004). Exakte Werte des Energiebedarfs können durch die indirekte Kaloriemetrie bestimmt werden. Bei dieser Messung kann anhand des Sauerstoffverbrauchs, der mithilfe einer Atemmaske bestimmt wird, errechnet werden, wie hoch der Ruheumsatz der oder des Betroffenen tatsächlich ist. Zu diesem Ruheumsatz muss dann noch der Aktivitätsumsatz geschätzt werden. So kann man heute zu recht verlässlichen Zahlen kommen, was den Energiebedarf betrifft. Eine ausgewogene und gesunde Ernährung dient der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen und soll Komplikationen vorbeugen. Bei den Komplikationen sind in erster Linie die Mangelernährung, das Unter- sowie das Übergewicht zu erwähnen.

Mangelernährung / Untergewicht

Die Thematik des Untergewichts ist bei Menschen mit Querschnittlähmung ein häufiges Problem. Bei vorhandenem oder bei Verdacht auf Untergewicht gilt es als erstes, eine gute Ursachenforschung zu betreiben, z. B. mangelnder Appetit aufgrund von Medikamentennebenwirkung. Aufgrund der fehlenden Verlässlichkeit des BMI als Instrument, sollte bei Verdacht auf eine Untergewichtsituation eine enge Gewichtskontrolle erfolgen. Achtung, neben dem Untergewicht spielt auch die Mangelernährung eine Rolle. Das heißt eine Normalgewichtiger kann durchaus mangelernährt sein, weil ihm*ihr die Mikronährstoffe (meist Elektrolyte) fehlen.

Übergewicht

Menschen mit Querschnittlähmung neigen aufgrund ihrer Immobilität oftmals zu Übergewicht. Dies kann die Immobilität noch verstärken, die Selbständigkeit kann abnehmen und das Risiko für die Entstehung eines Dekubitus kann erhöht sein, da z. B. die Seitenlehne des zu engen Rollstuhls Druckstellen verursachen können oder die Fähigkeit, das hohe Körpergewicht mit eigener Muskelkraft zu entlasten, abnimmt.

Ist eine Gewichtsabnahme indiziert, so sollte eine zertifizierter Ernährungstherapeut*in diesen Prozess aufgrund der vielfältigen persönlichen Bedingungen (Essgewohnheiten, Bewegung, Mahlzeitenrhythmus, psychische Komponenten) unterstützen. Eine Änderung des gewohnten Essverhaltens kann ohne diese Begleitung sehr schwierig und bei mangelndem Erfolg demotivierend sein. So kann trotz Übergewichtssituation ein erhöhter Nährstoffbedarf (Makro- oder Mikronährstoffe) vorliegen. Bei einer Gewichtsreduktion auf eigene Faust besteht die Gefahr, dass sich die Mangelernährung noch verschlimmert. Dem kann nur durch eine qualifizierte Ernährungstherapie, die immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin eingesetzt wird, vorgebeugt werden.

Ballaststoffe / Prä- und Probiotika

Zwei Aspekte, die immer wieder im Zusammenhang mit ausgewogener Ernährung bei Querschnittlähmung erwähnt werden, sind die Ballaststoffe sowie die Prä- und Probiotika.

Ballaststoffe
Ballaststoffe werden auch Nahrungsfasern, Pflanzenfasern oder Rohfasern genannt. Sie sind Nahrungsbestandteile, die der menschliche Körper nicht verdauen kann, weshalb sie ihm weder Energie noch Bausteine liefern. Trotzdem sollten sie zu jeder Mahlzeit gehören, da sie zahlreiche positive Auswirkungen auf die Verdauung und die Gesundheit des menschlichen Körpers haben und ihn vor dem Auftreten verschiedener Krankheiten schützen. Gernerell führt eine ausreichende Ballaststoffmenge zu einer besseren Verdauung. Die Werte für eine ausreichende Menge an Ballaststoffen liegen bei mind. 30g/Tag (SGE 2006).
Bei der Zufuhr von Ballaststoffen ist es wichtig, dass die Flüssigkeitsmenge, die aufgenommen wird, ausreichend ist d. h. mind. 1,8 Liter/24 Stunden. Bei Flüssigkeitsmangel können die Ballaststoffe kontraproduktiv sein. Generell sollten die Ballaststoffe in den Menüplan eingebaut werden und nicht als Nahrungsergänzung zugeführt werden. Wenn die Ballaststoffmenge erhöht wird, ist es wichtig, dass dies schrittweise passiert, so dass sich der Verdauungstrakt auch daran gewöhnen kann. Anfängliche Blähungen werden geringer mit der Gewöhnung.

Functional Food
Präbiotika sind Lebensmittelbestandteile, die nicht oder nur teilweise verdaulich sind, die sich aber auf den Menschen gesundheitlich günstig auswirken, indem sie aktiv das Wachstum und/ oder die Aktivität bestimmter Bakterien im Darm fördern. Präbiotika kommen vermehrt in ballaststoffreichen Lebensmitteln vor.
Probiotika sind Lebensmittel, die lebende Mikroorganismen enthalten, die die Magenpassage überleben und die Darmflora so passiv unterstützen können. Probiotika kommen meist in Form von Bifidobakterien und Laktobazillen in milchsauer vergorenen Lebensmitteln vor (Joghurt, Buttermilch). Eine Einnahme kann besonders während einer Antibiotikatherapie für die Darmflora von Nutzen sein. Die Einnahme der Probiotika baut keinen präventiven Effekt auf, d. h. die Wirkung ist so lange gegeben, wie man das Produkt einnimmt. Mit Absetzen des Produkts lässt die Wirkung wieder nach. Unter dem Aspekt, dass die Immunabwehr des Körpers zu großen Teilen im Darm passiert, kann der Einsatz von prä- und probiotischen Nahrungsmitteln durchaus indiziert sein.

Scroll to Top
Cookie Consent mit Real Cookie Banner