Rad und Tat

Neuro-Urologie

Dr. med. Ralf Böthing, Ltd. Arzt Abteilung für Neuro-Urologie im BG Klinikum Hamburg

Messplatz in der Urologie

Die Lebenserwartung von Menschen mit einer Querschnittlähmung ist heute dank moderner neuro-urologischer Diagnostik und Therapie kaum verringert – regelmäßige ›Uro-Checks‹ in spezialisierten Zentren vorausgesetzt. Die kompetente neuro-urologische Betreuung trägt damit ganz wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität Querschnittgelähmter bei.

In der Vergangenheit, noch vor 20 oder 30 Jahren, stellten chronische Schäden der unteren Harnwege infolge der gestörten Nervensteuerung der Blasenfunktiondie häufigste und oft lebensbedrohliche Komplikation nach einer Querschnittlähmung dar. Heute erlaubt ein zunehmendes Verständnis der Fehlfunktion der Harnblase eine zielgerichtete, individuelle Rehabilitation der Speicher- und Entleerungsfunktion der Harnblase. Dazu ist allerdings eine von Verständnis getragene, verantwortungsbereite Mitarbeit der oder des Betroffenen und eine lebenslang fortgeführte neuro-urologische Betreuung notwendig.

Eine ausgeglichene Blasenfunktion und die Erhaltung oder Wiederherstellung der Kontinenz tragen entscheidend zur Verbesserung der Lebensqualität bei. Da auch lange nach Lähmungsbeginn noch Veränderungen der Harnblasenfehlfunktion auftreten können, muss die Situation regelmäßig durch ›Uro-Checks‹ überprüft werden. Hier können durch spezielle Untersuchungen, insbesondere die regelmäßig zu wiederholenden Blasendruckmessungen, drohende Folgeschäden der Harnblase und auch der Nieren rechtzeitig erkannt und diesen durch entsprechende Veränderungen der Therapie vorgebeugt werden. Die Art und Häufigkeit der urologischen Vorsorgeuntersuchungen hängen dabei vor allem von der Art und dem Ausmaß der neurogenen Blasenfunktionsstörung ab. In der frühen Phase nach der Erstrehabilitation sollten die Uro-Checks alle 6–12 Monate, später dann bei komplikationslosem Verlauf in individuellen Intervallen, meist jedoch zumindest alle 2 Jahre durchgeführt werden.

Arten der Blasenlähmung

Die Aufgabe der Harnblase umfasst zwei Funktionskreise: die Speicher- und die Entleerungsfunktion. Beide können bei einer Querschnittlähmung in unterschiedlichem Maß gestört sein und beide müssen in das Rehabilitationskonzept eingeschlossen werden.

Spastische Lähmung (›Reflexblase‹)
Bei einer Schädigung des Rückenmarkes oberhalb des ›sakralen Blasenzentrums‹ in Höhe der unteren Lendenwirbelsäule resultiert meist diese Form der Blasenlähmung. Hier kommt es während der Blasenfüllung zu einer ›Überaktivität‹ (Zusammenziehen) des Blasenmuskels. Bei gleichzeitig spastisch verschlossenem Schließmuskel folgt daraus eine lang anhaltende Druckerhöhung im Blaseninneren. Dieser erhöhte Druck schädigt den Blasenmuskel und gefährdet so sekundär die Funktion der Nieren.

Das oberste Ziel der Behandlung der ›Reflexblase‹ stellt daher die Verhinderung einer Hochdrucksituation in der Harnblase dar. Die ›Dämpfung‹ des Blasenmuskels während der Speicherphase kann auf verschieden Weise erreicht werden. Oft gelingt dies durch Einnahme entsprechender Medikamente. Dazu sind nicht selten jedoch relativ hohe Dosierungen notwendig. Eine andere Möglichkeit besteht im Einbringen spezieller Medikamentenlösungen (Oxybutynin) in die Harnblase. Dadurch kann ein hoher Wirkstoffspiegel am Zielort bei oft reduzierten Nebenwirkungen erzielt werden.

Eine weitere Therapieoption ist die Injektion von Botulinumtoxin A in die Blasenwand. An 30 Stellen der Blasenwand wird im Rahmen einer Blasenspiegelung (mit oder ohne Narkose) jeweils eine geringe Menge des Nervengiftes gespritzt und so der Blasenmuskel für 6 bis 11 Monate ruhiggestellt.

Schlaffe Lähmung
Ist die Nervenverbindung zwischen der Blase und dem Blasenzentrum im unteren Rückenmark unterbrochen oder das Rückenmarkzentrum selbst zerstört, kann der Blasenmuskel sich nicht mehr zusammenziehen, um die Blase zu entleeren. Häufig ist auch der Schließmuskel schlaff gelähmt. Eine medikamentöse Ruhigstellung ist hier natürlich nicht notwendig, allerdings muss die Blase regelmäßig, mehrfach am Tag durch Vorschieben eines Einmal-Kathe- ters entleert werden (›Intermittierender Katheterismus‹- siehe unten). Eine Überfüllung der Harnblase (über 500 ml) muss vermieden werden, weil ansonsten eine Inkontinenz oder auch eine Druckschädigung des Blasenmuskels drohen.

Entleerung der Harnblase

In den meisten Fällen wird heute zur Entleerung der gelähmten Blase der Intermittierende Katheterismus (IK) empfohlen. Dabei wird ein Einmalkatheter über die Harnröhre bis in die Blase vorgeschoben und nach dem Entleeren der Harnblase wieder entfernt. Hiermit wird in idealer Weise das Prinzip einer drucklosen und restharnfreien Blasenentleerung verwirklicht. Eine genaue Handlungsanweisung ist in einer Leitlinie veröffentlicht, die über mehrere Internet-Quellen bezogen werden kann (z. B. https://www.dmgp.de/arbeitskreise/neuro-urologie ).

Mann im Rollstuhl am Waschbecken im Badezimmer

Natürlich ist der Aufwand im Alltag relativ groß, aber eine vollständige Kontinenz in den Zwischenzeiten stellt eine gute Motivation dar, dieses Verfahren anzuwenden. Die Versorgung eines Querschnittgelähmten mit einem Dauerkatheter kann heute nur noch in Ausnahmefällen akzeptiert werden. Insbesondere die unvermeidbare Besiedlung mit Bakterien stellt ein hohes Gefährdungspotential im Langzeitverlauf dar. In diesem Zusammenhang hat ein su-prapubischer Katheter (Bauchdecken-Katheter) gegenüber einem Harnröhren-Katheter nur den Vorteil, dass die Harnröhre geschont wird.

Harnwegsinfekte

Harnwegsinfekte (HWI) lassen sich bei einer Querschnittlähmung oft nicht vollständig vermeiden. Ein bis zwei fieberlose Infekte pro Jahr, die kompetent ›gemanagt‹ werden, können folgenlos ausheilen. Sollten sich jedoch Harnwegsinfekte häufen, muss die Blasensituation kontrol- liert werden. Oft liegt der Schlüssel beim Katheterisieren (aseptische Technik des IK, andere Einmal-Katheter, Optimierung des Zeitpunktes des IK …).

Nicht jeder Bakteriennachweis im Urin muss behandelt werden. Eine antibiotische Therapie ist in der Regel nur notwendig, wenn im Urin gleichzeitig Bakterien und weiße Blutkörperchen (Leukozyten) in bestimmter Anzahl nachweisbar sind oder Symptome (insbesondere Fieber, aber auch vermehrte Spastik, einsetzende Inkontinenz …) hinzutreten. Dann allerdings sollte die Behandlung ausreichend lange (mindestens 7 Tage) und in höherer Dosierung erfolgen. Vor der Einnahme eines Antibiotikums sollte immer ein Resistogramm angelegt werden, um die Wirksamkeit des Antibiotikums zu prüfen. Nur in dringenden Fällen muss sofort (nach Entnahme der Urinprobe) nach einem Breitbandantibiotikum gegriffen werden, bis das Resistogramm eine gezieltere Therapie gestattet.

Zur Vorbeugung vor HWI gibt es vielerlei Tipps und Tricks, die Sie am besten mit ›Ihrem‹ Neuro-Urologen besprechen sollten.

Weitere Behandlungsmöglichkeiten
Die bisherigen Ausführungen konnten natürlich nur einen groben Überblick über die Behandlungsmöglichkeiten zur Kompensation der Blasenfehlfunktion bieten. Selbstverständlich verfügt die moderne Neuro-Urologie über zahlreiche weitere Optionen. Diese reichen in speziellen Fällen von der gezielten elektro-physiologischen Stimulierung der Beckennerven (›sakrale Neuromodulation‹) zur Beeinflussung besonders der Beckenbodenfunktion (auch des Mastdarmes) bis hin zu aufwendigen operativen Eingriffen, mit denen z. B. gezielt die Reflextätigkeit des Blasenmuskels ausgeschaltet und die verbleibenden Nerven zur elektrisch stimulierten Entleerung der Harnblase genutzt werden (SDAF/SARS – ›Brindley-Op.‹).

Bakterienkulturen in einer Petrischale | Foto: ggw1962/shutterstock.com

Wichtig ist immer, dass alle Behandlungsvorschläge mit dem / der Betroffenen intensiv besprochen werden – es gibt keine Lösungen › von der Stange‹. Die Therapie muss stets den Möglichkeiten, Wünschen und alltäglichen Lebensumständen des Einzelnen individuell angepasst werden. Im Rahmen eines Arztgespräches z.B. während der urologischen Untersuchung können auch weitere Themen wie Sexualität oder Darm-Management besprochen werden – Ihr Neuro-Urologe wird Sie kompetent beraten.

Scroll to Top
Cookie Consent mit Real Cookie Banner