Rad und Tat
Diagnose Querschnittlähmung
Prof. Dr. med. Roland Thietje, Chefarzt des QZ im BG Klinikum Hamburg
Der Mensch ist ein Wirbeltier und hat somit eine Wirbelsäule. Sie besteht aus einzelnen Wirbeln, die über Bandscheiben und ein Bandsystem elastisch miteinander verbunden sind. Sie ist Schutz für das innen liegende Rückenmark, das als Leitungsorgan Signale vom Großhirn in die Peripherie leitet und umgekehrt.
Das Rückenmark ist das zentrale Leitungsorgan für den Transport von Informationen vom Großhirn zu den Erfolgsorganen und zurück. Hierdurch gelingt es einerseits, Bewegungsimpulse zu den Muskeln zu transportieren und andererseits Informationen über Sensibilität, Schmerzen, Stellung der Gelenke, Temperatur und andere Informationen zum Gehirn zurück zu leiten. Die Fähigkeit hierzu wird durch ein komplexes Geflecht von Milliarden Nervenfasern sichergestellt, die im Verlauf des Rückenmarkes auf vielfältige Art und Weise miteinander verschaltet werden. Hieraus resultiert im Wesentlichen, warum die Reparatur eines verletzten Rückenmarkes bis heute nicht gelingt.
Zusätzlich zu den motorischen und sensiblen Funktionen des Rückenmarkes existiert ein sogenanntes autonomes System, das für die Steuerung nicht bewusster Funktionen wie Herzschlag, Blutdruck, Atmung, Blasen- und Darmfunktion sowie Sexualfunktionen verantwortlich ist.
Alle Krankheiten und Verletzungen, die direkt im Rückenmark oder in dessen Nähe im Rückenmarkkanal auftreten, sind geeignet, eine Schädigung des Rückenmarkes im Sinne einer Querschnittlähmung auszulösen.
Der Aufbau
Die Wirbelsäule besteht aus sieben Halswirbeln, 12 Brustwirbeln und fünf Lendenwirbeln, die mit Zwischenwirbelscheiben, den sogenannten Bandscheiben, miteinander verbunden sind. Zusätzlich sind vielfältige Bänder zwischen den Wirbeln aufgespannt. Hierdurch wird einerseits zusätzliche Stabilität und andererseits Beweglichkeit und Elastizität in der Wirbelsäule erreicht. Das Rückenmark wird im Verlauf vom Gehirn bis in Höhe des 1. Lendenwirbelkörpers immer dünner, da in Höhe jedes einzelnen Wirbelkörpers Nervenfasern austreten, die sich außerhalb der Wirbelsäule zu Nerven vereinigen und festgelegte Funktionen haben. So gehen beispielsweise zwischen den Wirbelkörpern der Halswirbelsäule die Nervenwurzeln ab, die für die Handfunktionen zuständig sind. Hieraus wird klar, dass der Ort der Rückenmarkschädigung entscheidend ist für das zu erwartende Krankheitsbild. Querschnittlähmungen im Bereich der Halswirbelsäule werden als Tetraplegie bezeichnet, Schädigungen in Höhe des Brust- oder Lendenmarkes und darunter als Paraplegie. Bei der Tetraplegie sind alle vier Gliedmaßen, der Brustkorb und die Rumpfmuskulatur, bei der Paraplegie die Muskulatur des Rumpfes und der unteren Gliedmaßen betroffen.
Das funktionelle Ausmaß der Läsion wird nach der ASIA – Skala (American Spinal Injury Association) in die Typen A – E eingruppiert, wobei die Läsionshöhe dem tiefsten vollkräftigen Kennmuskel entspricht:
- A: Komplette Läsion. Keine sensible oder motorische Funktion in den tiefsten Segmenten S4-S5 (perianal).
- B: Inkomplette Läsion. Sensible Funktion bis in die tiefsten Segmente S4-S5, jedoch keine motorische Funktion unterhalb des Lähmungsniveaus.
- C: Inkomplette Läsion. Motorische Funktion unterhalb des Lähmungsniveaus überwiegend kleiner Kraftgrad 3.
- D: Inkomplette Läsion. Motorische Funktion unterhalb des Lähmungsniveaus überwiegend gleich oder größer Kraftgrad 3.
- E: Kein Nachweis sensibler oder motorischer Ausfälle.
Eine korrekte Lähmungsbezeichnung wäre zum Beispiel für einen Menschen mit volkräftiger Ellenbeugung und geringfügiger Kraft darunter: Querschnittlähmung unterhalb C 5 inkomplett nach ASIA, Typ C.
Ursachen der Querschnittlähmung
In Deutschland sind etwa 100.000 Mitbürger querschnittgelähmt. Trotz großer Erfolge in der Prävention, im Arbeitsumfeld und in der Verkehrssicherheit nimmt die Anzahl der Betroffenen stetig zu. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen erhöht die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung das Risiko, krankheitsbedingte Läsionen des Rückenmarkes zu erwerben. Zum anderen führt das zunehmend risikobehaftete Freizeitverhalten der Bürger zu entsprechenden Verletzungen.
Die rasanten Entwicklungen in der Medizin in den letzten Jahrzehnten haben dazu geführt, dass sich die Lebenserwartung von Menschen mit Querschnittlähmung nur noch geringfügig vom Durchschnitt (unserer Mitbürger) unterscheidet. Der Anteil der verletzungsbedingten Querschnittlähmungen beträgt in Deutschland ca. 50 %. Häufigste Ursachen sind Verkehrsunfälle und Stürze.
Der Anteil der erkrankungsbedingten Querschnittlähmungen liegt gleichfalls bei ca. 50 %. Die häufigsten Ursachen sind bösartige Erkrankungen, Infektionen und Durchblutungsstörungen.Bei ca. 60 % der Patienten sind Rumpf und Beine betroffen (Paraplegiker), bei ca. 40 % zusätzlich die Arme (Tetraplegiker). Der Anteil der Männer liegt bei 70 %, der der Frauen bei 30 %. Kinder mit Querschnittlähmungen sind zum Glück mit unter 1 % außerordentlich selten. Ungefähr 1 – 2 % der Patienten bleiben aufgrund der Höhe des Lähmungsniveaus dauerhaft beatmungspflichtig.
Umfassende Behandlung
Im Vergleich zu anderen Erkrankungen und Verletzungen ist das Bild der frischen Querschnittlähmung nicht häufig. Deshalb ist das für die spezifische Behandlung erforderliche Fachwissen in der Fläche des Landes oftmals nicht ausreichend vorhanden.
Ein wichtiges Element der Behandlung ist die operative Versorgung der instabilen Wirbelsäule. Genauso wichtig ist jedoch, dass sich unmittelbar hieran eine qualifizierte Behandlung anschließt, die nicht nur die medizinische Versorgung, sondern sämtliche Aspekte der Physiotherapie, Ergotherapie, Sporttherapie, Pflege und nicht zuletzt der psychologisch und seelsorgerischen Betreuung in einer Ausnahmesituation berücksichtigt Schließlich bedarf es einer engmaschigen neuro-urologischen Versorgung, um Folgeschäden an den harnableitenden Organen zu vermeiden.
Das Ergebnis der medizinischen Behandlung, der Rehabilitation und der beruflichen bzw. sozialen Reintegration Querschnittgelähmter hängt daher davon ab, dass die Patienten möglichst frühzeitig in ein geeignetes Zentrum verlegt werden. Der multidisziplinäre und multiprofessionelle Behandlungsansatz ermöglicht es, die Patienten schon während der akuten Phase mit allen geeigneten medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen zu behandeln, und das Behandlungskonzept jederzeit den aktuellen Erfordernissen anzupassen.
Ziel sämtlicher Bemühungen ist es, querschnittgelähmten Patienten ein Höchstmaß an körperlicher Integrität, Lebensqualität und Selbständigkeit innerhalb unserer Gesellschaft zu sichern.
Lebenslange Nachsorge
Das Prinzip der umfassenden Behandlung von Menschen mit Querschnittlähmung endet nicht mit Abschluss der stationären Behandlung, sondern mündet vielmehr ein in ein Konzept der lebenslangen Nachsorge. Dieses ist geprägt durch ein regelhaftes präventives Nachsorgeprogramm, dessen Inanspruchnahme nachweislich dafür sorgt, dass das Auftreten querschnittlähmungstypischer Komplikationen vermieden oder wenigstens frühzeitig erkannt wird.
Typische Komplikationen sind Druckgeschwüre, Urin- und Stuhlinkontinenz, neuro-urologische Probleme, Lungenentzündungen, Schmerzsyndrome, Spastik sowie Schäden am Bewegungsapparat.